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Von Linda Reisch

"Erst die Musik, dann die Sprache“ - so fasst Alexander Kluge die Thesen des amerikanischen Evolutionsbiologen William T. S. Fitch zusammen. Zuerst gab es in der Evolution die einfachen Signale und Zeichen als Töne; daraus entwickelte sich ein komplexes Tonsystem - es gibt laut Professor Fitch 300 Tierarten, die singen oder Musik haben -, diesem differenzierten Tonsystem konnten vielschichtige Bedeutungen zugeordnet werden: Es entwickelte sich Sprache.

Das Konzept des Musikkindergartens Berlin besagt, mit und durch die Musik in die einzelnen Bildungsbereiche vorzustoßen. Die Sprachentwicklung spielt hier eine zentrale Rolle, aber Bewegung, die Berührung mit Naturwissen, mathematisches Grundwissen, Kommunikationsfähigkeit, Empathie, soziales Wissen werden ebenso von der Musik aus erobert und gelernt.


In tausend Geschichten zeigt sich im Musikkindergarten, dass die Musik alle kulturellen und sozialen Hürden leicht überwindet und die Kinder, unabhängig von ihrem Hintergrund, an alle Bildungsbereiche heranführt. Vielleicht, weil die Musik unsere Ursprache ist und Bedeutungen strukturieren und systematisieren hilft. Die obige These von Fitch hilft erklären, warum Musik das Lernen so leicht und selbstverständlich macht.

Da ist der kleine kolumbianische Junge, der in Deutschland aufgewachsen ist, fließend Deutsch spricht, nach einigen Wochen in der elterlichen Heimat zu uns zurückkommt und im Musikkindergarten kein Wort Deutsch mehr spricht und versteht. Schon gleich am ersten Abend dieser Sprachverwirrung haben alle Kinder seiner Gruppe, ohne jede Anleitung, mit den spanischen Vokabeln so kunst- und lustvoll jongliert und gespielt, dass der kleine Kolumbianer seine besondere neue Rolle verloren hatte und am nächsten Tag wieder Deutsch sprach. Die Kinder haben durch die Musik fein geschulte Ohren, der Zugang zu anderen Lauten und Sprachen fällt ihnen leicht und ist ihnen zudem noch ein Riesenspaß. Frühspanisch kann das nicht ersetzen. Das Fazit daraus: Ein ausgebildetes und geschultes Wahrnehmungsvermögen befähigt nicht nur zum Lernen, es verführt dazu.

Da ist die knapp Zweijährige, die nach dem Besuch einer Geigerin der Staatskapelle Berlin wider alle Vernunft und entgegen allen unseren pädagogischen Grundsätzen schon Geige spielen will und über Wochen auf der Viertelgeige im Musikkindergarten so lange herumkratzt, bis sie richtige Töne hervorbringt.

Und die Zweieinhalbjährige, die mit zwei Muttersprachen in den Musikkindergarten kommt, aber kein Wort Deutsch kann und nach einer Woche musikalischer Grundverständigung anfängt mitzureden.

Oder die kleine Gruppe von knapp vierjährigen Jungen, die verschiedenfarbige Wäscheklammern zusammensuchen, diese bunt durcheinander zusammenstecken und die fünf Meter lange Schlange als Partitur zum Abspielen mit unterschiedlichen Instrumenten benutzen: Jeder Klammerfarbe war ein Instrument zugeordnet. Und sie spielten ihre Partitur mit großer Ernsthaftigkeit und hohem Tempo ab. Sie wollten „komponieren“, ein Komponist war Wochen zuvor bei den Kindern zu Besuch, nur auf die Wäscheklammernidee wäre kein Erwachsener gekommen.

Geschichten dieser Art gibt es noch viele, anlässlich des 10. Kitajahres des Musikkindergarten Berlin tragen wir sie derzeit zu einer kleinen Broschüre zusammen.

Im Frühjahr 2005 initiierte Daniel Barenboim die Gründung des Musikkindergartens Berlin und gab ihm die Leitlinie, „nicht Musikerziehung, sondern Bildung der Kinder mit und durch Musik“ zu realisieren. Mit den Musikern der Staatskapelle Berlin hatte Daniel Barenboim auf einer Tournee über diesen Plan gesprochen und sie gebeten, ehrenamtlich den Kindergarten musikalisch zu unterstützen. Und dies tun die Musiker: Seit nun über neun Jahren kommen sie Woche für Woche in den Musikkindergarten, zeigen, spielen, erläutern ihre Instrumente, geben kleine Konzerte, begleiten Lieder, bringen Konzert- und Opernliteratur mit, vertiefen musikalisch Bildungsschwerpunkte und führen gemeinsam mit den Erzieherinnen und den Kindern alljährlich Projekte durch. Die Akademisten der Staatskapelle helfen ebenfalls, vor allem dann, wenn die Staatskapelle Berlin auf Tournee ist.

Die große Professionalität der Musiker gibt den Kindern die besten Hörmuster für die Schulung der eigenen Ohren; sie lernen sehr früh ein großes Repertoire klassischer, neuer und improvisierter Musik; die Kinder kennen alle Instrumente und wissen viel über ihre Bau- und Wirkungsweise; sie erfahren, wie viel die Musiker üben müssen, und den für jedes Lernen so entscheidenden Spannungsbogen von Disziplin und Leidenschaft.

Und sie erfahren dies alles mit Begeisterung und Vergnügen. Da setzt ein Musiker den Trichter vom Horn als Hut auf den Kopf; mit der Oboe tanzt an einem Faden eine Schlange; mit den Füßchen kann man das Vibrieren des liegenden Kontrabasses spüren - und dabei etwas über Schwingungen lernen; die Töne der Geige bringen viele Kinder dazu, dass sie selbst das Geigespielen lernen möchten - obwohl dies nicht die Intention des Musikkindergartens ist; eine Tuba macht mächtigen Eindruck; und das Singen bringt doppelt so viel Spaß, wenn Saiten- oder Blasinstrumente es begleiten. Wenn Daniel Barenboim selbst in den Musikkindergarten kommt oder bei den Projekten mitwirkt, ist die Hochstimmung perfekt. Das Dirigieren steht Tage und Wochen danach hoch im Kurs bei den Kindern, oft mit erstaunlicher Präzision.

Der Kindergartenalltag ist musikalisch strukturiert, es wird viel gesungen und getanzt. Zahlreiche Musikinstrumente sind jederzeit für die Kinder erreichbar und können von ihnen „gespielt“ werden. Wo welche Musikinstrumente eingesetzt werden dürfen, ist geregelt: Denn drei quietschende Kindergeigen, untermalt von kräftigen Flötentönen und Tamburinen in den Gruppenräumen würde niemand lange aushalten. Wenn man nun glaubt, ein musikalischer Kindergarten sei besonders laut, dann täuscht man sich. Jeder Besucher ist als erstes erstaunt darüber, wie leise es im Musikkindergarten zugeht. Geschulte Kinderohren lehren eben auch, differenziert mit der Stimme umzugehen.

Jedes Jahr im Sommer wird ein gruppenübergreifendes Projekt zu einer kleinen Vorstellung geformt - nicht für die Öffentlichkeit, allein für die Eltern, Großeltern und Geschwister. Für das Team des Musikkindergartens ist dies jedes Mal eine Herausforderung: Es ist viel Phantasie und Improvisationsgabe gefordert, dazu solide musikalische Kenntnisse, um mit den Musikern ein musikalisch stimmiges Konzept zu entwerfen, vor allem ein Konzept, das allen bei uns vertretenen Altersgruppen gerecht wird. Es braucht also Elemente, die die Zweijährigen begeistern, und Herausforderungen für die Vorschulkinder. Das Ganze darf zeitlich eine Dreiviertelstunde nicht überschreiten, soll den Kindern Vergnügen bereiten und Ihnen gleichzeitig die Möglichkeit bieten, für einige Wochen an einem Projekt zu werkeln, Szenen zu üben und schließlich „aufzutreten“. Nach unseren Erfahrungen sind diese Projektabschlüsse für die Kinder ein Höhepunkt in ihrer Kitazeit und bleiben über Jahre in der Erinnerung.

Projekte waren beispielsweise der „Karneval der Tiere“ von Saint-Saens, der „Stimmenzauber“, orientiert an der Zauberflöte von Mozart, oder die „Kiezmusikanten“: Hier ging es um die Erkundung des Sozialraums, in dem der Musikkindergarten in Berlin sich befindet; entsprechend der vorgefundenen Architektur kam es zu einer Zeitreise durch vier Epochen, musikalisch vom frühen Mozart über Beethoven und Brahms bis zu einem Couplet von Otto Reutter und einem Lied von Reinhard May.

Es gab das Projekt „Gefühle“; den „Liebestrank“ nach Donizetti, „GeMuLi - Gesang, Musik Lied“, und in diesem Sommer hieß es „Mozart spielt auf“. Die Leiterin des Musikkindergartens, Leonore Wüstenberg, verfasst jeweils zu den Projekten einen kurzen Handzettel für die Eltern, in dem sie die Verbindung von der Projektidee zu den pädagogischen Intentionen zieht. Ich darf daraus zitieren: ….

Aus all den Erfahrungen ist ein musikalisches Konzept entstanden, das die Leitlinie von Daniel Barenboim ausführt und darlegt, wie durch die Musik die einzelnen Bildungsbereiche des Berliner Bildungsprogramms erreicht werden können. Dass dies nur mit best ausgebildeten Erzieherinnen möglich ist, die alle mindestens ein Instrument spielen, täglich immer wieder mit den Kindern singen und den Alltag im Kindergarten musikalisch gestalten, liegt auf der Hand. Und dass nur ein guter Betreuungsschlüssel gute, solide und individuelle Bildung ermöglicht, sollte ebenfalls selbstverständlich sein - was es aber in Deutschland im Gegensatz etwa zu Skandinavien nicht ist.

Untersuchungen haben gezeigt, daß millionenschwere Sprachprogramme scheitern, weil mangelnde Grundkenntnisse der Erzieherinnen von Sprache und deren Aufbau die frühkindlichen Förderinitiativen zunichte machen. Wenn in ihrer Ausbildung Erzieherinnen Hören lernten, z.B. die Existenz von Konsonanten wahrnähmen; wenn sie das Theaterspielen lernten und damit auch den Umgang mit literarischen, sprachschulenden Texten; wenn sie das Singen lernten und dabei das Artikulieren und Rhythmisieren - dann hätten so viele Kinder mehr die Chance, selbst mit einer entwickelten Sprache in die Schule zu kommen und die Lehrer zu verstehen. Kinder brauchen Vorbilder. Kinder ahmen nach, Gutes wie Schlechtes. Die Qualität des Vorbilds bestimmt die Qualität der Nachahmung. Das sagt etwas aus über die Ausbildungsnotwendigkeiten von Pädagogen, sagt auch etwas über die notwendige Qualität kultureller Bildung, wenn sie denn eine positive Wirkung haben soll.

Warum sollen Kinder gerne singen, wenn die Erzieherinnen sich um jedes Lied drücken mit dem Satz, sie könnten nicht singen. Warum ist es ihnen nicht beigebracht worden? Selbst bei Bewerbungsgesprächen für den Berliner Musikkindergarten gab es die Vorstellung einer Bewerberin, die zwar drei Akkorde auf der Gitarre spielen konnte, aber dezidiert feststellte: „Aber singen tu ich nicht“. Wie kann jemand in diesem Beruf reüssieren wollen, der das, was die Kinder von Anfang an am meisten mögen: singen und tanzen, für sich ablehnt? Wie wollen sie bei den so begeisterungsfähigen Kindern das Grundmuster fürs weitere Lernen legen, wenn sie selbst nie gelernt haben zu begeistern, die Sinne zu öffnen, neugierig zu bleiben und z.B. mit der eigenen Stimme zu experimentieren? Bei uns im Musikkindergarten war einmal Moritz Eggert zu Besuch, ein junger, international angesehener Komponist, der auch für die eigene Stimme komponiert. Er hat den Kindern ein solches Stück vorgeführt - das hat zu wochenlangen Nachahmungen und witzigsten stimmlichen Selbsterfahrungen geführt. Und bei den Erzieherinnen zu spontanen Begeisterungsstürmen. Überhaupt: Die neue Musik. Kinder haben noch nicht unsere Hörfilter. Sie gehen völlig offen auf bislang Ungehörtes zu.

Auch das kann man nutzen. Also noch weit jenseits der Akademisierungsdebatte des Erzieherberufs wäre dringend, dringend, dringend ein Schub in der Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen nötig: Die Künste gehören substantiell hinein, die ästhetische Bildung müßte gerade hier die Grundlage aller weiteren Inhalte werden. Malen, Formen, Gestalten, Werken - nicht Schablonen ausschneiden. Verbunden mit dem Wissen, warum man dies tut: Um die Sinne zu öffnen, die Wahrnehmung der Kinder zu schulen und ihnen damit den Eintritt zum weiteren Lernen zu gewährleisten. Die meisten Erzieherinnen suchen nach unserer Erfahrung nach qualifizierten Fort- und Weiterbildungen, das qualifizierte Angebot gerade im künstlerischen und kulturellen Bereich ist jedoch bei weitem nicht ausreichend.

Woche für Woche besuchen Klassen von Erzieherfachschulen den Musikkindergarten und lassen sich die Arbeit und das Konzept erläutern. Es gibt den Musikkindergarten Hamburg, der nach dem Berliner Muster entwickelt wurde. Die Stadt Düsseldorf hat beschlossen, zehn Musikkindergärten zu gründen. In Buxtehude, Erlangen, Hof, Lüdenscheid, Melsungen, Nürnberg, Osnabrück, Pforzheim, Stade, Taucha und Würgau haben sich aufgrund einer Musikkindergarten-Initiative der Soroptimistinnen Projekte entwickelt, die die frühkindliche musikalische Bildung im Barenboimschen Sinne vorantreiben: nicht Musikerziehung, sondern Bildung durch Musik.

In Frankfurt am Main haben sich die Musiker des Ensemble Modern zusammengetan und ein Musikerbündnis mit Musikern anderer professioneller Klangkörper gebildet: „Musiker für Kinder - MufKi“; nach dem Vorbild der Staatskapellenmusikern gehen sie ehrenamtlich in Kindergärten und Grundschulen. Wenn dies in Frankfurt möglich ist, ist es das auch in anderen Regionen.

Gut sind solche Besuche dann, wenn den Musikern musikalisch ausgebildete Erzieherinnen gegenüberstehen, die das von den Musikern mitgebrachte musikalische Material in die Bildungsprozesse einbringen können. Eine solche Qualifikation erhalten Erzieherinnen in dem berufsbegleitenden sechssemestrigen Weiterbildungsstudiengang „Musik in der Kindheit“, der in Frankfurt am Main und in Lüneburg angeboten wird, verantwortet von der Universität Lüneburg. Bis Musik wieder ein selbstverständlicher Anteil der Erzieherausbildung in Deutschland wird, müssen solche Zusatzqualifikationen den Ausbildungsmangel überbrücken.

All diese Mosaiksteine zeigen, dass das Modell Musikkindergarten Berlin ansteckt und immer mehr Kinder die Chance erhalten, ihren individuellen Weg zur Bildung durch und mit Musik zu erreichen. Dass sie damit auf Dauer ihr Leben bereichern, ist sicher der beste Grund, die Idee von Daniel Barenboim zu verbreiten. Jeder kann dabei mithelfen - treten Sie unserem Netzwerk „Musik bildet.“ bei!*

*www.musikkindergarten-berlin.de

 

Aus: Beitrag für klein&groß, Oktoberheft 2014, Schwerpunkt Kunst und Kultur im Kindergarten

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